Immer wieder wird der Datenschutz als Sündenbock für die digitale Rückständigkeit Deutschlands angeführt. Doch Estland zeigt: Datenschutz und digitale Innovation müssen sich nicht widersprechen. Im Gegenteil – mit der richtigen Infrastruktur kann er sogar zum Wettbewerbsvorteil werden. Was Deutschland daraus lernen kann, legt Alain Blaes, Gründer und Geschäftsführer der Kommunikationsagentur PR-COM, in diesem Kommentar dar.
Project Stargate sorgt in Deutschland und der EU für Nervosität. Wegen der großen KI-Offensive der USA fordern Experten, Branchenvertreter und Politiker eine deutliche Steigerung der KI-Investitionen. Sonst drohe Europa bei dieser Schlüsseltechnologie endgültig den Anschluss zu verlieren. Und auch Rufe nach einer Lockerung des Datenschutzes werden laut – wieder einmal, denn diese Debatte ist nicht neu. Sie wird vor allem in Deutschland immer wieder geführt, wenn es darum geht, Erklärungen für die schwachbrüstige digitale Innovationsfähigkeit unseres Landes zu finden. Der strenge Datenschutz hemme unsere Innovationskraft, so das Lamento. Ist da wirklich was dran?
Datenschutz als bewusste Wertentscheidung
Fakt ist: Deutschland und die EU haben ein höheres Datenschutzniveau als die USA und erst recht als China. Bestimmte Geschäftsideen sind dadurch tatsächlich ausgeschlossen. Wenn Daten für einen digitalen Service auf unzulässige Weise erhoben, gespeichert oder verarbeitet werden müssen, ist er von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dem liegt aber eine bewusste Wertentscheidung zugrunde: Die Europäer wollen keine Innovation um jeden Preis. Im Konfliktfall geht die Privatsphäre der Bürger vor. Das heißt aber mitnichten, dass deshalb eine digitale Innovationskultur unmöglich ist.
Estland: Innovation trotz DSGVO
Ein Blick ins Baltikum liefert den Beweis. Estland unterliegt genauso wie Deutschland dem Datenschutzrahmen der DSGVO – und ist trotzdem ein Vorreiter bei digitalen Innovationen. Der Baltenstaat weist eine hohe Start-up-Dichte auf und hat bereits mehrere Unicorns hervorgebracht. Bolt mit seinen digitalen Mobilitätsservices kommt ebenso aus Estland wie Veriff mit seiner KI-gestützten Identitätsprüfung und Pipedrive mit seiner CRM-Software. Das auf Geldtransfers spezialisierte Fintech Wise hat estnische Wurzeln und Skype wurde in Estland mitentwickelt.
Was Estland anders macht
Was läuft in Estland anders als bei uns? So einiges. Das Land hat schon in den späten 90er Jahren ein E-Government-System aufgebaut, das es den Bürgern ermöglicht, fast alle Interaktionen mit dem Staat online abzuwickeln. Damit macht Estland nicht nur seinen Bürgern das Leben leichter, sondern bietet auch einen guten Nährboden für technologische Innovation. Die bürokratischen Hürden für Start-ups und Unternehmen sind niedrig und sie haben einen einfachen Zugang zu digitalen Lösungen, die sie in ihre Geschäftsmodelle integrieren können. Und sie haben Zugriff auf viele Daten, die von der Regierung öffentlich zur Verfügung gestellt werden, und können diese Daten für die Entwicklung neuer digitaler Services nutzen.
Datenschutz als Standortvorteil nutzen
Für die Esten ist der Datenschutz also keineswegs ein Hemmschuh. Doch nicht nur das: Sie nutzen ihn sogar als Wettbewerbsvorteil. Die digitale staatliche Infrastruktur des Landes enthält eine moderne e-ID. Damit können sich die Bürger online sicher ausweisen, Verträge digital unterschreiben und ihre Steuerangelegenheiten oder Bankgeschäfte online erledigen. Mit X-Road betreibt Estland eine dezentrale Datenplattform für einen sicheren Informationsaustausch zwischen Behörden, Unternehmen und Bürgern. Daten werden nicht zentral gespeichert, sondern direkt zwischen autorisierten Stellen ausgetauscht. Jeder Datenabruf wird protokolliert und ist für die Bürger einsehbar. Blockchain-Technologie verhindert die Manipulation der Daten. Diese Infrastruktur schafft Vertrauen bei Bürgern, Unternehmen und internationalen Investoren und produziert dadurch eine attraktive digitale Wirtschaft.
Deutschlands Baustellen liegen woanders
Estland macht vor, wie es geht. Datenschutz sollte nicht als Klotz am Bein betrachtet, sondern als Triebfeder für digitale Innovation und Wettbewerbsfähigkeit genutzt werden. Dafür braucht es aber eine entsprechende digitale Infrastruktur. Natürlich fällt es einem kleinen Land wie Estland, das zudem nach der Auflösung der Sowjetunion praktisch auf der grünen Wiese starten konnte, leichter, so eine Infrastruktur zu schaffen. Aber es hilft nichts: Deutschland kommt nicht umhin, für ähnliche Rahmenbedingungen zu sorgen. Dafür müssen wir weiß Gott genug Baustellen bearbeiten. Der Datenschutz gehört nicht dazu.
