Digital ist gleich effizient – damit diese Gleichung stimmt, sollten im Unternehmen erst die Hausaufgaben gemacht sein. Im Interview mit Midrange.de (MM) verdeutlicht Karl Tröger, Business Development Manager bei der PSI Automotive & Industry GmbH, wie die Integration der bestehenden Geschäftsprozesse angegangen werden soll.

MM: Im ersten Schritt geht es bei der Digitalisierung um die Integration sämtlicher Geschäftsprozesse – intern wie extern. Dazu wird der Unternehmens-Backbone, das ERP-System, zum echten, digitalen Wegbereiter. Welche zusätzlichen Funktionalitäten sollte ein bestehendes ERP-System aufweisen?
Tröger: Die Digitalisierung erfordert eine tiefe Integration der Systeme und Prozesse bei gleichzeitig stark gestiegenen Anforderungen an die Flexibilität oder Agilität. Auf den ersten Blick klingt das wie ein Widerspruch in sich. Dazu gehört eine massiv gestiegene Fähigkeit zur Vernetzung mit der Produktionstechnik und weiteren Services. Diese können Cloud-basiert oder auch on-premise verfügbar sein. Bereitgestellte Funktionalität ist zukünftig nicht mehr an ein einziges System gekoppelt, sondern entsteht durch die Orchestrierung bereitgestellter Services. Diese „mixed functionality“ kann sehr flexibel auf einen konkreten Anwendungsfall zugeschnitten und auf einfache Weise an neue Gegebenheiten angepasst werden. Grundvoraussetzung ist dazu die Fähigkeit der beteiligten Systeme (nicht nur ERP!), ihre Funktionen und Daten serviceorientiert in einer angemessenen Granularität zur Verfügung zu stellen. Die Verbindung der Funktionen mit ihren Daten sollte über einen Enterprise Service Bus erfolgen. Damit können flexibel Systeme „zu- oder abgeschaltet“ werden. Dieser ESB unterstützt in der Zukunft nicht nur den Datenaustausch, sondern instanziiert auch Prozesse und kann eine angeschlossene GUI zur Interaktion mit den Systemen anbieten. Neuen Anforderungen an die Funktionalität kann so weitgehend ohne komplexes Customizing Rechnung getragen werden. Es können einzelne Funktionsbereiche auf einfachere Art-und-Weise ausgetauscht bzw. modernisiert werden. Feste hierarchische Systeme werden durch flexibel vernetzbare und wandelbare Systeme abgelöst. Somit müssen auch ERP-Systeme in die Lage versetzt werden, sich mit anderen Softwaresystemen oder technischen Systemen zu vernetzen.

MM: Wo sehen Sie die größten Potenziale für die Digitalisierung von Geschäftsmodellen?

Quelle: PSI Automotive & Industry GmbH

Karl Tröger, Business Development Manager bei der PSI Automotive & Industry GmbH.

Tröger: Schon immer spielen, insbesondere im Maschinen- und Anlagenbau, Serviceangebote eine bedeutende wirtschaftliche Rolle – wenn sie nicht sogar kaufentscheidend sind. Sachleistungen werden im Business Sektor heute fast nur noch im Zusammenhang mit Dienstleistungen verkauft. Es kann sogar vorkommen, dass an dem kombinierten Angebot von Sach- und Dienstleistungen mehrere Unternehmen beteiligt sind. Für ERP-Systeme erfordert das einerseits die Fähigkeit zur Kollaboration mit Kunden, Lieferanten und Partnern und andererseits eine entsprechende Prozessunterstützung für die Erbringung der relevanten Dienst- bzw. Serviceleistungen. ERP-Systeme bilden nicht mehr nur den eigentlichen Produktionsprozess eines Erzeugnisses ab (as-built Zustand), sondern auch den Zustand im Feld (as-operated & maintained). Die Kundenbeziehung selbst kann von effizienten Serviceprozessen profitieren und es kann ein Wettbewerbsvorteil entstehen. Zunehmend halten Methoden und Verfahren aus dem Bereich Industrial Intelligence Einzug in das moderne Wartungs- und Instandhaltungsmanagement. Dabei umfasst Industrial Intelligence nicht nur den großen Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI), sondern darüber hinausgehend auch ein breites Spektrum von Methoden aus den Bereichen Operational Research und Engineering. Bei KI im industriellen Einsatz geht es beispielsweise um die Aufbereitung großer Datenmengen zur Vorhersage technisch und kommerziell günstiger Wartungstermine und –routinen oder der intelligenten Gestaltung komplexer Maschinenabläufe.

MM: Welche Rolle sehen Sie dabei für den Einsatz neuer Technologien wie die Künstliche Intelligenz?
Tröger: Es existieren eine Menge Anwendungsfälle über die Thematik „Predictive Maintenance“ hinaus. Die heute eingesetzten Systeme liefern eine Unmenge an Daten. Es geht dabei nicht nur um Maschinen- und/oder Prozessdaten, sondern auch um Log-Files, Meldeprotokolle, Kunden- und Einkaufsvorgänge, Abrufinformationen, Materialanforderungen, Buchungsinformationen, Terminbestätigungen u. v. m. Diese Daten müssen sinnvoll miteinander verknüpft und kontinuierlich überwacht werden. An der Stelle von nachgelagerten post-mortem Analysen kommt es darauf an, so frühzeitig wie möglich quasi in Real-Zeit, Abweichungen in den Prozessen und Lieferketten zu erkennen. Dies ist nur möglich, indem nicht die gesamten Datensätze immer wieder neu analysiert werden, sondern nur ein ausgewähltes Zeitfenster betrachtet wird, sozusagen ein Stream. Dieses Zeitfenster wird durch die Eigenschaften der überwachten Prozesse bestimmt. Geht es also eher um langlaufende Vorgänge oder höherfrequente Abläufe und Workflows. KI-unterstütze Algorithmen können Störungen vorhersagen. Andere Anwendungen sind die Vorhersage von Verbräuchen, Bedarfen und Beständen oder auch der Zustand eines Produktionssystems in der Zukunft. Die angewendeten Modelle müssen ständig überprüft werden. Die abgeleiteten Vorhersagen werden mit der Zeit ungenauer. Das liegt u. a. daran, dass nicht ein vollständiger Datenbestand untersucht wird, sondern nur ein Teil davon – das Zeitfenster. Dieses Phänomen wird als „Concept Drift“ bezeichnet. Diesem kann durch die Überwachung der datenerzeugenden Prozesse hinsichtlich grundsätzlicher Veränderungen oder der Einbeziehung weiterer Parameter begegnet werden.

MM: Bei PSI verfolgen Sie einen Ansatz mit Industrial Apps. Wie spielt der mit der ERP-Welt zusammen?
Tröger: Die Prozessgeschwindigkeit in den Unternehmen muss unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs erhöht werden. Das ist keine Phrase, sondern harte Realität. Weiterhin gehört zu effizienten Prozessen eine stabile und verlässliche Datenbasis. Hier setzen die Industrial Apps an. Es geht um die Unterstützung der Mobilität der Mitarbeiter sowohl in-house als auch außerhalb der Standorte und die Absicherung einer zeitnahen Datenerfassung. Beispiele finden sich hier viele. Prozesse in der Materialwirtschaft oder bei der Erfassung der Betriebsdaten für die Beurteilung der Produktionsprozesse im direkten Umfeld der Fertigung seien hier genannt. Typische Anwendungen außerhalb der Unternehmensgrenzen sind das Servicemanagement oder Vertriebsprozesse. Es geht letztlich darum, den Arm des ERP bis zum Einsatzort der Mitarbeiter zu verlängern – wo auch immer sich dieser gerade befindet. Das sichert die zeitnahe Generierung von wichtigen Unternehmensdaten oder auch Buchungen in der Fertigung und Materialwirtschaft ab. Die Informationsbasis ist somit immer „up-to-date“ und es kann schnell auf Abweichungen oder andere Probleme reagiert werden. Natürlich spielt auch das Handling der Systeme eine wichtige Rolle. Begrenzte Bildschirmgrößen erfordern eine optimierte bzw. reduzierte Informationsbereitstellung. Das bedeutet nicht, dass die großen Datensätze in den ERP-Systemen überflüssig wären. Für einen konkreten Use Case wie eine Lagerabbuchung werden nur wenige Daten benötigt und dargestellt. Das reduziert im Übrigen auch den Schulungsaufwand enorm.

MM: Wie wichtig ist die mobile Nutzung der ERP-Funktionalität für ein Unternehmen?
Tröger: Um die Bedeutung einer möglichen mobilen Nutzung zu beurteilen müssen die Use Cases klar sein. An vorderster Front seien hier die Anwendungen für den klassischen Außendienst genannt. Diese Nutzergruppen profitieren in hohem Maße von der mobil verfügbaren Datenbasis eines ERP- oder auch PLM-Systems, denkt man hier z. B. an den mobilen Service. In Zeiten schwacher Margen im Neugeschäft wächst die Bedeutung der mit den Produkten oder Investitionsgütern angebotenen Dienstleistungen. Die effiziente und professionelle Abwicklung kann einen Wettbewerbsvorteil darstellen. Weitere Themen sind die Laufzeiterfassung von Maschinen und Anlagen, die bereits genannte Betriebsdatenerfassung oder Lagerbuchungen direkt am Regal. Gerade hier schlummert viel Potential. Stellen die Bestandsinformationen doch die Grundlage der gesamten Materialdisposition dar. Fehler führen hier zu Fehl- oder Überbeständen und beeinflussen im ersten Fall direkt die Kundenzufriedenheit oder führen zu erhöhten Kosten in der Lagerhaltung und lassen unnötig Liquidität abfließen.

MM: Wo sehen Sie weitere Unternehmensbereiche, die von der Digitalisierung profitieren können?
Tröger: Die Profiteure der Digitalisierung sind nicht einzelne Abteilungen oder Unternehmensbereiche. Die gesamte Unternehmung kann einen erheblichen Nutzen aus der fortschreitenden Digitalisierung ziehen. Beispiele wurde hier bereits genannt: Lager, Service, Produktion, Wartung und Instandhaltung … um nur einige zu nennen. Datenmanagement in Zeiten von KI, Analytics und zunehmender Prozessautomatisierung ist, neben dem Management der Abläufe an sich, einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren bei der und durch die Digitalisierung. Die Vollständigkeit und Richtigkeit aller Daten macht die Digitalisierung erst möglich. Automatisierte Abläufe funktionieren zuverlässig nur mit „richtigen“ Daten. Es kommt also, neben der organisatorischen Verankerung in den Unternehmen, darauf an, die Prozesse zur Anlage, Pflege und Harmonisierung von Stammdaten insbesondere in ERP-Systemen kontrolliert, stabil und sicher ablaufen zu lassen. Hier können mittlerweile integrierte Workflowmanagementsysteme zur Stabilisierung der Abläufe und zur Steigerung der Nachvollziehbarkeit genutzt werden. Die Qualität der Daten, also die Aktualität, Richtigkeit und Relevanz für einen bestimmten Prozess, muss kontinuierlich hochgehalten werden. Bewegungsdaten aus dem Shopfloor sind genauso wichtig wie die Auftragsdaten im ERP-System. Werden doch auf dieser Basis Entscheidungen getroffen, Termine ermittelt oder Preise kalkuliert.

MM: Der Einkauf arbeitet in vielen Unternehmen bereits „digitalisiert“ – wie lassen sich dort Effizienzgewinne realisieren?
Tröger: Im Einkauf liegt der Gewinn. Dieser Slogan aus der Vergangenheit hat noch heute Gültigkeit. Die Vernetzung der Unternehmen in den Lieferketten hilft bei der Automatisierung der Prozesse mit den Geschäftspartnern. Damit sind im Übrigen auch die Kunden gemeint. Hier ist Effizienz bares Geld. Es gibt noch weitere Aspekte gerade im Kundenauftragsprozess entlang der gesamten Supply Chain von Lieferanten bis zum Kunden. Auf der Basis von Vorhersagen des Kundenverhaltens und letztlich auch des Lieferanten können die Beschaffungsprozesse optimiert werden. Die Auswirkungen langer Lieferzeiten können sehr gut an der aktuellen Chipkrise beobachtet werden. Rechtzeitige Sicherung des Nachschubs kann hier Verluste bei Umsatz und Ergebnis vermeiden. Es kommt demzufolge nicht nur auf die Automatisierung der Prozesse, sondern eben auch auf die Ermittlung oder Abschätzung sinnvoller Bedarfs- und Verbrauchstermine an. So können Bestellungen rechtzeitig ausgelöst werden und Kunden termingerecht beliefert werden.

MM: Heutige ERP-Umgebungen stehen oftmals vor einem Problem: Sie müssen die Daten aus verschiedensten Bereichen des Unternehmens zusammenführen und daraus aussagekräftige Entscheidungsgrundlagen liefern. Wie lässt sich das in Zeiten einer weitgehenden Digitalisierung vereinfachen – und werden dabei bestehende Plattformen für den elektronischen Datenaustausch überflüssig?
Tröger: Die Komplexität und Heterogenität von IT-Landschaften führt zu immensen Aufwänden bei der Integration unterschiedlichster Applikationen und deren Datenbeständen. Die Integration und damit die Verbindung verschiedener Datenquellen ist ein Erfolgsfaktor in der heutigen schnelllebigen Zeit. Analysen und Vorhersagen sind nur so gut wie die ihnen zugrunde liegenden Daten. Neue datengetriebene Geschäftsmodelle werden erst mit der Verfügbarkeit der notwendigen Informationen möglich gemacht. Es kommt auf einen strategischen Ansatz an. Ein guter Ausgangspunkt ist ein modernes ERP-System als zentrale Softwareplattform (Integration Hub). Dazu bedarf es einer massiv gesteigerten Integrationsfähigkeit aller Komponenten. Es muss möglich sein, IoT-Devices, Cloud-Services oder lokale Applikationen auf einfachste Weise miteinander zu verbinden. Darüber hinaus kommt es auch darauf an, Geschäftspartner in der Lieferkette in die eigenen Prozesse zu integrieren bzw. selbst Bestandteil externer Lieferketten zu sein. Hier können die klassischen Kommunikationsmethoden wie EDI oder myOpenFactory durchaus einen großen Beitrag leisten. Letztlich kommt es auf die Nutzung standardisierter Technologien an. Flexibel konfigurierbare Interfaces und automatisierte Prozesse auf der Grundlage einer leistungsfähigen Middleware und etablierten Kommunikationswegen sind der Schlüssel zum Erfolg.

Rainer Huttenloher

PSI Automotive & Industry GmbH