ERP-Systeme sind das digitale Rückgrat vieler Unternehmen, jedoch stellt die zunehmende Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) das bisherige ERP-Verständnis grundlegend auf den Prüfstand. KI verspricht neben mehr Automatisierung auch eine neue Qualität der Prozessintelligenz und Anwenderunterstützung. Im Gespräch MIDRANGE erläutert Frank Siewert, Vorstandsvorsitzender der Comarch AG, wie sich ERP-Systeme weiterentwickeln und welche Rolle KI dabei spielt.
Hallo Herr Siewert, wir wollen über „ERP und KI“ sprechen. Das Thema ERP dürfte für die meisten Unternehmen nichts Neues mehr sein. Das Thema Künstliche Intelligenz schon eher. Nun kombinieren Sie beides. Bleiben wir zunächst beim Thema ERP: Sie bieten Comarch ERP Enterprise sowie Comarch ERP 5.0 an. Wie spielt beides zusammen?
Die Architektur von Comarch ERP Enterprise ist auf Interoperabilität ausgerichtet. Das heißt, wir haben unser ERP-System immer als Plattform für die Steuerung und Abwicklung der Unternehmensprozesse gesehen und dahingehend weiterentwickelt.
Mit Comarch ERP Enterprise war ein Unternehmen zum Beispiel direkt in der Lage, andere Systeme über unseren Business Integration Service anzubinden und profitierte von durchgehenden Prozessen. Die Workflow-Engine sorgte für die nötige Automatisierung der Prozesskommunikation. Comarch ERP Enterprise hatte also alles schon voll integriert, was man bisher nur über eine Middleware, EAS, EAI, oder ähnliche Systeme realisieren konnte. Der Begriff SOBA, kurz für „Service-Oriented Business Application“, wurde übrigens von uns geprägt.
Diesen Ansatz haben wir in unsere ERP 5.0 Strategie weiterentwickelt: Wir sehen immer stärker die Notwendigkeit, die Unternehmensprozesse als Services zu vernetzen. Es sollte keine Rolle spielen, ob der Prozess im ERP-System beginnt und über das QS-System bis zum MES weitergeführt wird. Mit dieser Strategie – genannt ERP 5.0 – binden wir Comarch-Produkte, aber auch Fremdapplikationen, in Form eines Eco-Systems an unser ERP-System an.
Nun kommt KI ins Spiel und hebt ERP 5.0 auf die nächste Stufe. KI unterstützt die Vernetzung, indem sie verschiedene zusammenhängende Prozesse und Daten intelligent zusammenführt. Auch der Automatisierungsgrad lässt sich so weiterdenken. Dabei hilft Comarch ChatERP, unser eigens entwickelter Chatbot. Er begleitet die User durch alle Prozesse, wie ein digitaler Sparringspartner. Man könnte auch sagen, das ERP spricht nicht mehr nur im übertragenen Sinn mit dem Unternehmen.
Wie stark setzen Unternehmen Ihrer Erfahrung nach beim Thema ERP bereits auf KI?
Das Engagement der Unternehmen nimmt allmählich Fahrt auf, es müssen aber noch technologische Hürden im Sinne der Interoperabilität aus dem Weg geräumt werden. Wenn ich meinem ERP-System erstmal beibringen muss, auf Basis einer Service-orientierten Architektur zu kommunizieren, wird die Integration von KI zur Herausforderung. Oft stellen Unternehmen beim Einstieg die notwendigen KI-Services über eine Low-Code-Plattform zur Verfügung.
Mit Comarch ERP Enterprise sind wir professioneller aufgestellt, da wir den Prozessgedanken von Grund auf in unseren ERP-Genen verankert haben.
Auf Ihrer Website sprechen Sie davon, dass KI ERP-Systeme grundlegend verändern wird und Unternehmensprozesse revolutionieren kann. Welche Aufgaben wird die KI denn beispielsweise übernehmen können?
Wir sehen im Wesentlichen zwei Aspekte: Erstens die Reduktion der Komplexität für den Anwender, zweitens die Vereinfachung und Automatisierung von Prozessen.
Der Funktionsreichtum von ERP-Systemen bringt leider Komplexität mit sich. Der Anwender kennt nicht jede Funktion und weiß nicht immer, in welchem Menüpunkt er nach der gerade benötigten Anwendung suchen muss. Hinzu kommen überladene Nutzeroberflächen – das kann Anwender überfordern.
Daher verfolgen wir mit KI den Ansatz, einen Kundenauftrag sozusagen „schlank“ anlegen zu können.
Könnten Sie uns ein paar konkrete Anwendungsfälle von Künstlicher Intelligenz im ERP aus der Praxis nennen?
Gerade im Bereich des Customer-Service bringt KI spürbaren Nutzen, weil er so immer und unkompliziert erreichbar ist. Mit entsprechender Technologie durchaus auch per Sprachbefehl. Hinzu kommt eine Reihe von Automatisierungsmöglichkeiten zum Beispiel im Retouren-Prozess.
Auch die Datenanalyse profitiert von KI. Bisher war etwa die Absatzplanung inklusive komplexer Prognosemodelle nur durch Experten-Systeme möglich. Mittlerweile können Mitarbeiter auch ohne tieferes Wissen auf solche Prognosemodelle im ERP-System, angefüttert mit Unternehmensdaten, zugreifen. Die notwendigen Ressourcen für KI-Prognoseberechnungen – dazu zählen Technik, aber auch Services und Daten – lassen sich heute eben viel leichter bereitstellen als noch vor einigen Jahren.
Ein weiteres Beispiel: Prozesssicherheit. Gerade im Bereich Rechnungswesen gibt es aufwendige Genehmigungs- und Freigabe-Verfahren – sie dauern lange, wandern durch viele Hände und verursachen beträchtliche Kosten. Warum sollte man nicht auch hier die Künstliche Intelligenz im Unternehmen einsetzen, um Anomalien zu erkennen, wo es Auffälligkeiten im Daten- und Prozesskontext gibt. Die Büromaterial-Rechnung im Wert von 1.000 Euro läuft ungehindert durch. Wenn aber diese Rechnung zehnmal pro Woche mit einem Wert von jeweils 200 € kommt, registriert die KI eine Abweichung von der „Normalität“.
Sie bieten ja zum Beispiel Comarch ChatERP – einen KI-Assistenten in Comarch ERP Enterprise – an. Wie kann man sich das vorstellen, und was ist der Vorteil für den Kunden?
Als erstes haben wir unsere Dokumentation, die aus mehr als 1.500 Einzel-Dokumenten besteht, über unseren Assistenten Comarch ChatERP in unserem ERP-System bereitgestellt. Der Anwender muss nicht mehr wissen, in welchem konkreten Dokument der Dokumentation die gewünschte Information steht. Vielmehr kann er dem Assistenten in natürlicher Sprache eine Frage stellen und erhält im Handumdrehen die Antwort, gegebenenfalls gleich mit einer Handlungsempfehlung. Das Beste daran: Der Nutzer muss nicht einmal die Sprache der Dokumentation beherrschen. Bei der Übersetzung hilft wieder die KI.
Sie sehen also, vieles steht unter dem Motto Komplexitätsreduktion. Anwender können mit einfachen Fragestellungen auf die vorhandenen betriebswirtschaftlichen Daten zugreifen und ohne BI-Kenntnisse eine Abfrage abwickeln, wie zum Beispiel: „Zeige mir die fünf umsatzstärksten Artikel aus dem letzten Jahr.“ Oder: “Welcher Kunde kaufte den zweiten Artikel aus der Ergebnisliste am häufigsten?“
Dafür müsste man auf der Datenbank-Ebene mehrere SQL-Statements absetzen oder einen BI-Würfel konzipieren.
Der Endnutzer muss bei solchen neuen Anwendungsmöglichkeiten ja auch mitmachen wollen. Treffen Sie auch auf Widerstände, wenn Sie solche neuen Lösungen vorstellen?
Ich will es mal so formulieren: Im ersten Schritt gibt es vielleicht gewisse Berührungsängste oder Skepsis seitens der Anwender. Mit unserem Comarch ChatERP haben wir aber die Erfahrung gemacht, dass die Anwender sehr schnell erkennen, wie nützlich die Technologie ist. Sie kann praktisch umgehend in den Alltag integriert werden. Und meist bekommen wir von den Unternehmen schnell Feedback mit Anregungen für weitere Einsatzmöglichkeiten für die KI.
Welche Herausforderungen gibt es denn grundsätzlich bei der Einführung von Künstlicher Intelligenz in ERP-Systeme?
Sofern der Hersteller eines ERP-Systems schon integrierte Services anbietet, gilt es ein konkretes Szenario zu definieren – etwa für Spracherkennung oder eine Automatisierung. Daraus wird abgeleitet, welche Technologie für die Umsetzung erforderlich ist. Dazu sollte sich das Unternehmen an ein praxiserfahrenes Beratungsunternehmen oder Systemhaus wenden. Das erleichtert den Einstieg.
Generell gilt natürlich immer, die Unternehmens-Compliance zu berücksichtigen: Wer interagiert mit welchen Daten, wo liegen die Daten, welche Daten-Policy ist gewährleistet, wer ist dafür zuständig, und so weiter.
Worauf kann man sich in naher und mittelfristiger Zukunft aus Ihrem Hause beim Thema ERP und KI freuen?
Wir werden Comarch ERP Enterprise tief mit Künstlicher Intelligenz verbinden. Zurzeit haben wir Handbücher, Statistiken und eine einfache Steuerung der Anwendung – auch über Diktierfunktionen – integriert. Als nächstes folgt die intelligente Prozesssteuerung, um die Automation der Geschäftsprozesse unserer Kunden voranzutreiben. Künftig wird es nur noch ERP-Systeme am Markt geben, die über solche Möglichkeiten verfügen.
Zum Schluss noch der Blick in die Glaskugel: Was wird uns die Künstliche Intelligenz in Zukunft alles an manueller Arbeit abgenommen haben? Wie wird die ERP-Nutzung dann aussehen?
Wir gehen davon aus, dass sich die Anwenderinteraktion mit einem ERP-System massiv verändern wird, weg von starren Anwendungen (UI) und Bedienmodellen (UX), hin zu prozessgetriebenen Interaktionen mit KI-Unterstützung.
Mit Sicherheit wird der disruptive Ansatz, alles Bisherige in Frage zu stellen, eine entscheidende Rolle spielen. Möglich wären Ideen wie eine selbstprüfende Bilanz oder der „eingesprochene“ Prozess.
Vielen Dank für die spannenden Einblicke in die Zukunft von „ERP und KI“, Herr Siewert.
