Experten sind sich einig: Die nächste Generation von ERP-Systemen wird anders aussehen als heutige Systeme. Dabei wird sich die Usability an die Standards anpassen, die Anwender aus dem Consumer-Bereich gewöhnt sind – zum Beispiel werden Apps für vollständige Mobilität sorgen. Vor diesem Hintergrund erläutert Karl Tröger, Business Development Manager bei der PSI Automotive & Industry GmbH, im Interview mit dem Midrange Magazin (MM) die aktuellen Trends.
MM: Wer sollte eine Migration auf ein komplett neues und zukunftssicheres ERP-System anstreben?
Tröger: Wie so oft kommt es auf das Augenmaß an. Die Umweltbedingungen der Produktion werden immer volatiler. Entscheidungen müssen unter unsichereren Rahmenbedingungen getroffen werden. ERP-Systeme stehen dabei – zumindest im Produktionsalltag – an vorderster Stelle. Die existierenden Systeme sind ein Spiegel der Zeit aus der sie kommen. Teilweise sind es riesige Daten- und Funktionssilos. Es musste für jede noch so kleine Aufgabenstellung eine Lösung „hinein entwickelt“ werden.
MM: Was bedeutet das für heutige ERP-System?
Tröger: Sie müssen „on-the-fly“ an neue Gegebenheiten ohne langwieriges Customizing angepasst werden können. Für den Fall, dass beispielsweise die Aufwände für die zeitgerechte und stabile Auftragsbearbeitung zu hoch sind -sei es wegen fehlender Usability, mangelnder Mobilität oder geringer Flexibilität der existierenden Lösung– sollte über die Migration auf eine moderne, modulare und wandelbare mobil nutzbare Softwareplattform nachgedacht werden.
MM: Wer sollte auf eine Integration von seinem Legacy-System mit zusätzlichen Satelliten-Lösungen setzen?
Tröger: „Legacy“ sollte nicht automatisch mit „Altlast“ übersetzt werden. Die Systeme erfüllen auf der kommerziellen Schiene oft alle Anforderungen. Die Ergänzung dieser Lösungen mit flexiblen und modularen Komponenten zur Steigerung der Flexibilität der wertschöpfenden Prozesse an Stelle einer teuren Komplettablösung ist durchaus ein gangbarer Weg. Der zielgerichtete Einsatz serviceorientierter und integrativer Lösungsbausteine kann zu einer Erhöhung der Flexibilität und Reaktionsfähigkeit in diesen unsicheren Zeiten führen.
MM: Wie beantwortet sich die Frage im Umfeld von Anwenderunternehmen, die Lösungen aus dem Bereich Industrie 4.0 umsetzen möchten oder gar müssen?
Tröger: Die Produktionsanlagen werden mehr und mehr über eine standardisierte Beschreibungsform und Schnittstelle – die Verwaltungsschale einer Industrie 4.0 Komponente – verfügen. Diese müssen durch ERP (und MES) interpretiert und genutzt werden. Es wird nun darauf ankommen, die alte und die neue Welt zusammen zu bringen. Moderne Softwarelösungen müssen mit Altanlagen vernetzt werden. Umgekehrt müssen moderne Fertigungssysteme mit Legacy-Systemen oder deren Komponenten integriert werden. Nicht zuletzt müssen auch die Softwaresysteme (aller Generationen) in den konkreten Fällen zusammenspielen. Nur so kann die Digitalisierung der Wertschöpfung gelingen.
MM: Welche technologischen Voraussetzungen sind bei bestehenden ERP-Lösungen nötig, damit eine enge Integration gelingen kann?
Tröger: Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Schaffung einheitlicher und standardisierter Schnittstellen und Datenstrukturen. Dazu müssen die Softwaresysteme über eine, den heutigen Ansprüchen genügendes API – Application Programming Interface – und Usability verfügen bzw. muss diese geschaffen werden. Letztendlich kommt es auf die Fähigkeit einer engen Kopplung von PLM, ERP, MES und dem Equipment an. Deklarative Vorgehensweisen zur Definition von Abläufen in den Systemen und systemübergreifend erleichtern die Integration massiv. „No Code“ bzw. „Low Code“ Plattformen zum Prozessmanagement erlauben die schnelle Anpassung an neue Gegebenheiten im Markt- und Produktionsumfeld.
MM: Was bedeutet das für die Prozesse eines Unternehmens, das – im Falle von Industrie 4.0-Anwendungen – mit komplett anderen Produktlebenszyklen umgehen können muss?
Tröger: Der Wunsch der Verbraucher nach individuellen Lösungen widerspiegelt sich in der Produktion in reduzierten Losgrößen, mehr Aufträgen zur Abwicklung und insbesondere immer kürzeren Durchlaufzeiten, um im globalen Wettbewerb der Lieferketten bestehen zu können. Dazu bedarf es einer wandelbaren Produktionstechnik, die in kürzester Zeit auf neue Erzeugnisse, geänderte Mengen oder neue Technologien umgestellt werden kann. Die Konzepte „Industrie 4.0“ sollen genau das ermöglichen. So kann verkürzten Produkt- und Produktionslebenszyklen begegnet werden.
MM: Wie wird bei einem derart hybriden Ansatz – Legacy plus zusätzliche Module – die Integration mit Systemen wie MES aussehen müssen?
Tröger: Die klassische Trennung von Grobplanung (im ERP) und Feinplanung (im MES) muss überdacht werden. ERP-Systeme sind nicht für die hochfrequente Verarbeitung von Zustandsänderungen, Umplanungen im Shopfloor oder die Überwachung der Betriebsmittel geeignet. Und doch müssen wichtige Informationen aus dem Fertigungsprozess z.B. in die Planung durchdringen können. Somit kommt dem MES die Rolle zu, genau diesen wichtigen Durchstich herzustellen. Die Feinplanung vor Ort, ggf. auch an anderen Standorten, hat nach wie vor die Aufgabe, die Vorgaben aus dem ERP-System durchzusetzen. Sie kann aber andere Algorithmen nutzen, Optimierungen vornehmen oder auf Störungen im Ablauf reagieren.
MM: Welche Hilfestellung sollten Anwenderunternehmen von Softwarepartnern bei derartigen Projekten erwarten können?
Tröger: Hilfestellung ist zu einseitig. Es geht vielmehr darum, den Kunden noch viel mehr in die eigenen Innovations- und Wertschöpfungsprozesse zu integrieren. „Customer in the loop“ heißt durchgängiges Engineering vom Kundenwunsch bis zur Erbringung von Serviceleistungen. Ständiger Austausch von Wissen und erfolgsorientierte Kollaboration sind dazu die Voraussetzungen. So gelingen gemeinsame Projekte auf der Basis praxistauglicher Softwarekomponenten.
Rainer Huttenloher