Die Umstellung auf SAP S/4HANA als ERP-Transformation wird sich auf die meisten Geschäftsfunktionen auswirken, insbesondere auf den Bereich Steuern. Jetzt ist Koordination gefragt.

Während die IT-Abteilungen bei den Migrationsplänen federführend sind, gilt es für die Steuer- und Finanzteams, sich einzubringen und zu verstehen, welche Auswirkungen die Modernisierungen auf die Ermittlung der Umsatzsteuer und die Compliance haben werden. Denn der wichtige Unterschied von Migration zur Transformation ist, dass die Transformation nicht nur alte Funktionen migriert, sondern auch modernisiert, um neue und verbesserte Funktionalitäten nutzbar zu machen. Das ist eine einmalige Chance für die Steuerabteilung, ihre Prozesse zu verbessern.

Angesichts der massiven Herausforderungen einer ERP-Transformation – insbesondere zu SAP S/4HANA – scheinen Fragen zu automatisierten Umsatzsteuerprozessen zunächst harmlos. Allerdings: Der Gesamtprozess der Umsatzsteuer ist über verschiedene Abteilungen im Unternehmen verteilt, angefangen bei Stammdaten, die Beschaffung und den Vertrieb bis hin zu Debitoren/Kreditoren und anderen Funktionen der Finanzbuchhaltung.

Eine aktuelle Studie von International Tax Review (ITR) und Vertex Inc. zeigt, dass aufgrund der zunehmenden Komplexität im Steuerwesen 95 Prozent der Steuerfachleute Schwierigkeiten haben, die Änderungen bei den indirekten Steuern nachzuvollziehen. Die kontinuierlichen Änderungen bei den globalen Anforderungen indirekter Steuern beeinträchtigen internationale Handelstransaktionen und erhöhen das Risiko, dass bei Audits bzw. Steuerprüfungen Fehler aufgedeckt werden.

Umsatzsteuerrisiko gefährdet Margen

Damit wird klar, dass die Sachverhalte dynamisch und die Gesamtprozesse komplex sind. Die Steuerabteilung ist oft nur Verwalter der Vorprozesse. Zusätzlich hat die Umsatzsteuer ein hohes Transaktionsvolumen: Man stelle sich nur einmal ein Unternehmen vor, dass ca. 19 Prozent Marge auf Grund eines Umsatzsteuerrisikos verlöre. Wäre es dann noch profitabel?
Die nativen Standard-ERP-Umsatzsteuerfunktion, auch die in SAP S4/HANA, helfen Unternehmen bei der Erfüllung der grundlegenden Anforderungen. Wenn sich Vertriebskanäle erweitern und wachsen, nimmt die Komplexität der Umsatzsteuer-Prozesse weiter zu. Dann stellt sich die Frage, ob und wie die grundlegenden Funktionen und Steuerlogiken im ERP für erweiterte Automatisierungs-, Berichts- und Überwachungsfunktionen ausgebaut werden müssen.

Die Projektpraxis der Vertex Inc. zeigt bei Tax-Engine-Implementierungen: Die Globalisierung des Unternehmens spielt für diese Entscheidung ebenso eine Rolle, wie auch die geplante Entwicklung der bestehenden ERP- Systemlandschaft und die Organisation der IT- und Finanzabteilungen.

Verstrickungen indirekter Unternehmenssteuern aus technischer Sicht

Typische ERP-Systeme (auch SAP S/4HANA) nutzen Tausende oder sogar Hunderttausende von Steuerkonditionssätzen, die die Behandlung der Transaktionen des Unternehmens im Hinblick auf indirekte Steuern (Umsatzsteuern sowie Goods and Services Tax und Sales & Use Tax insbesondere auf globaler Ebene) bestimmen. Diese Steuerkonditionssätze sind eine Sammlung komplexer Regeln, die miteinander verknüpft sind.

Die Änderung eines Konditionssatzes kann sich auf andere Konditionssätze auswirken, was die Pflege der Umsatzsteuereinstellungen in ERP-Systemen sehr kompliziert machen kann. Ein Konditionssatz ist nur eine Ebene in einer Vielzahl von unterschiedlichen Regeln. Hier gilt es den Überblick zu behalten, welche Regel Vorrang vor anderen hat.

Hinzu kommen zusätzliche Systeme und Plattformen für Beschaffung, Reisekosten, eCommerce oder weitere ERP-Instanzen z.B. aus Unternehmenszukäufen, die mit ihren eigenen Umsatzsteuereinstellungen in die Gesamt-ERP-Systemlandschaft einfließen. Es erfordert die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachkompetenzen und Kapazitäten, um die Steuereinstellungen technisch und inhaltlich in all diesen Systemen und Plattformen kontinuierlich zu prüfen und einzustellen. Damit reagiert die Steuerfindung oft statisch auf dynamische Sachverhalte wie veränderte Lieferketten. Die Steuerabteilung muss mit Workarounds nacharbeiten.

Wenn sich Verantwortlichkeiten fachlich und regional überschneiden

In einem dezentralen Organisationsmodell sind IT- und Finanzabteilungen nah am Geschäft und ebenso nah an den lokalen gesetzlichen Entwicklungen. Das macht es zwar einfacher, regionale Entwicklungen und deren Einhaltung zu erkennen, umzusetzen und zu überwachen, doch die zentrale Kontrolle darüber wird schwieriger.

Umgekehrt ist die Situation in einem sehr zentralisierten Organisationsmodell. In der Praxis verfolgen Unternehmen normalerweise unter erhöhtem Abstimmungsaufwand eine Kombination aus beidem – die Folge: Es braucht mehr Automatisierung und Workflow-Tools für eine systemtechnisch lückenlose und rechtlich konforme Behandlung indirekter Steuern der grenzüberschreitenden Order-to-Cash- und Procure- to-Pay-Prozesse im Rahmen des Tax Compliance Management Systems (Tax CMS).

Rechtliche Entwicklungen: (Near) Real-Time-Reporting

Auch die aktuellen Entwicklungen zum (Near) Real-Time-Reporting oder des zentralen E-Invoicing mit Clearing durch die Finanzverwaltung ist in vielen Ländern bekannt, in Europa längst angekommen und in Deutschland Teil der Koalitionsvereinbarung für die laufende Legislaturperiode. Zukünftig wird die Finanzverwaltung die Daten direkt aus dem ERP erhalten und die Steuererklärung vorausfüllen.

Die Zeit zwischen Verbuchung und Meldung wird damit immer kürzer und nachträgliche Änderungen werden immer transparenter für die Finanzverwaltung. Somit stellen sich folgende Fragen: Wie viel Zeit bleibt der Steuerabteilung für Nacharbeiten? Sind regelmäßige Korrekturmeldung zu erwarten, die Steuerprüfer aufmerksam machen?

Hier bietet jedes ERP-Transformationsprojekt, insbesondere die Transformation zu SAP S4/HANA, eine einmalige Chance für die Steuer. Den meisten Steuerabteilungen sind die Risiken und die Schwächen der Legacy-Prozesse bewusst. Jetzt ist die Zeit, die ungeliebten Risiken und Nacharbeiten zu beseitigen, eine vollständige Automatisierung als Basis des Tax CMS zu schaffen und die Prozesse sicherer und effizienter zu gestalten: die Budgets sind da und alle Geschäftsbereiche involviert.

Am Ende ist die automatisierte Steuerfindung im ERP das Herzstück des TAX CMS insbesondere in Anbetracht der hohen Transaktionsrisiken. Denn die Steuerfindung muss zu Beginn bei der Verbuchung der Transaktion korrekt ermittelt werden. Der Schwerpunkt im Bereich Steuermeldungen liegt dann nur noch in der korrekten Übertragung im geforderten Format.

Von der Automatisierungs- zur Build-or-Buy-Frage

Ist die Entscheidung gefallen, dass eine Umsatzsteuer-Automatisierung der richtige Ansatz ist, gilt es, die eigenen Anforderungen zu definieren und die Alternativen zu untersuchen:

  • Inhouse Ausbau des nativem ERP-Systems und eigene steuerrechtliche Systempflege aller Plattformen,
  • Lizensierung und Implementierung eines Umsatzsteuer-Add-ons, das bestimmte benötigte Funktionen für das Core -ERP bereitstellt, aber immer noch durch das Unternehmen mit Steuersätzen und -regeln gepflegt werden muss. Parallel müssen andere Plattformen nativ gepflegt werden.
  • Lizensierung und Implementierung einer Tax Engine, die den dynamischen Transaktionen das richtige Steuerkennzeichen automatisiert in Echtzeit liefert und die Steuerfindung selbständig durchführt. Dabei harmonisiert und orchestriert die Tax Engine die Steuerregeln und -sätze weltweit für alle ERP-Instanzen und Plattformen, die eine Steuerfindung benötigen.

Jede dieser Lösungen hat Ihre Berechtigung am Markt, jetzt stellt sich die Frage nach den spezifischen Anforderungen des Unternehmens.

Der Return on Invest einer „Build or Buy“-Frage

Viele Faktoren verschieben den ROI einer „Build or Buy“-Frage bei der Umsatzsteuer-Automatisierung im ERP-System: Zum einen geht es um die Komplexität der aktuellen und künftigen internationalen Vertriebswege, den Stand und die Planungen für die IT-Systemlandschaft sowie die zu erwartenden Anforderungen der Finanzverwaltungen. Zum anderen geht es ebenso um die Verfügbarkeit eigener Ressourcen und Kompetenzen für automatisierte Steuerprozesse. All diese Punkte spielen eine langfristige Rolle für den gesamten Steuer-ERP-Prozess.

Kurz, es gilt abzuwägen: Ab wann rechnen sich Lizenzgebühren und Implementierungskosten einer Tax-Engine im Vergleich zu Add-On- oder Inhouse-Lösungen, die von eigenen oder meistens eher externen IT- und Steuerexperten koordiniert, entwickelt und auf dem neuesten Stand gehalten werden. Darüber hinaus sind immer Überlegungen anzustellen, ob mit dem hohen Steuerrisiko auch Reputationsrisiken einhergehen.

Die individuelle Gewichtung folgender Aspekte verschieben die ROI-Einschätzung entweder in Richtung „Eigenbau“ oder in Richtung Tax-Engine:

  1. Implementierung und Betrieb:
    Müssen komplexe Umsatzsteuer-Szenarien, wie z. B. Reihengeschäfte, abgebildet werden?Die Steuerklassifizierung von Material und Kunde bestimmt die Besteuerung einer Transaktion im nativen ERP – wie komplex gestaltet sich dies für das eigene Unternehmen?
    Im nativen ERP sind alle Umsatzsteuersätze und -regeln in komplex codierten Steuerkonditionssätzen eingebettet. Bei Änderungen an den Steuersätzen und -regeln oder an den Geschäftsszenarien müssen diese Konditionssätze neu codiert und geprüft werden. Wie hoch wird dafür der Aufwand geschätzt?
    Ist absehbar, dass zusätzliche Länder, Regionen oder juristische Personen eingebunden werden müssen?
    Wie hoch ist der Aufwand, die nötigen Steuer-Sätze und -Regeln manuell im ERP-System zu erstellen und auf dem Laufenden zu halten?
    Wie viele Finanz- und ERP-System sind im operativen Betrieb, für die Umsatzsteuer-Codierungen vorgenommen werden müssen?
    Ist das Unternehmen schon in den USA tätig, dann wird ggf. bereits eine Tax Engine für die USA genutzt. Lässt sich diese global einsetzen?
  2. Sicherheit und TAX CMS
    Sollen nicht konforme Transaktionen automatisiert blockiert oder gemeldet werden?
    Sind Stammdatenänderungen kritisch und sollen diese durch die Steuerabteilung überwacht werden?
    Wie kritisch wird der regelmäßige Zugriff auf das operative ERP-System zur Anpassung von Steuerprozessen bewertet?
    Wie kritisch wird bewertet, dass jeder, der berechtigt ist, Codierungsaktivitäten im ERP-System durchzuführen, auch Umsatzsteuer-Konditionen ändern kann?
    Hat die Steuerabteilung Zugriff auf Konditionstabellen oder nur die IT oder externe Berater?
    Versteht die Steuerabteilung die Konditionstabellen und kann sie diese im Rahmen der Verfahrensdokumention auch der Steuerverwaltung erläutern?
    Welches Niveau an automatischen Qualitätsprüfungen und Korrekturen ist für Steuer-Berichtsfunktionen erforderlich?
    Wie weit ist die Geschäftsführung bereit, Reputationsrisiken im Bereich Steuern zu tolerieren?

Die Gewichtung und Aufwandsabschätzung dieser Faktoren sollte sorgfältig und gemeinsam von der IT- und Finanz- bzw. Steuerabteilung analysiert werden, da jeweils tiefes Fachwissen für eine realistische Gesamtsicht mit ROI-Prognose erforderlich ist. Dabei sollte die Steuerabteilung möglichst früh Allianzen im Unternehmen suchen. Viele Abteilungen (Einkauf, Debitoren, Kreditoren, Hauptbuch, Ordermanagement etc.) haben Einfluss auf die Steuerfindung.

Diese Abteilungen haben ein natürliches Interesse daran, Verantwortung und Aufgaben, die nicht in ihren Kernkompetenzen liegen, zu automatisieren und somit auch im eigenen Bereich Effizienzen zu heben. Auch die IT-Abteilung wird entlastet, wenn die Anforderungen der Steuerabteilung an einen Tax Technologieanbieter abgetreten werden können. Denn die Anforderung der Steuerabteilung als Endnutzer der Steuerfindung sind dynamisch und hochkomplex, die IT-Budgets sind aber doch oft zu schmal für die Anforderungen Steuerabteilung.

Die Weichen für eine umfassende Digitalisierung im Finanz- und Steuerwesen müssen nun gestellt werden. Diese Entwicklungen haben erheblichen Einfluss auf technologische Entscheidungen rund um zentrale ERP-Systeme. Es ist unabdingbar, dass sich die IT enger mit den Finanz- und Steuerexperten koordiniert, wenn es um steuertechnische Kernfunktionen zentraler Managementsysteme geht.

Die Steuerabteilung mit ihren Allianzen sollte Ihren Platz im ERP-Transformationsprojekt einfordern. Denn am Ende geht es um nichts weniger als das Herz des Tax CMS für die Umsatzsteuer in Form der Steuerfindung im ERP Gesamtprozesses.

Ralf Nietupski ist Diplom-Finanzwirt (FH) und Steuerberater sowie als Business Development Director bei Vertex Inc. tätig.

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