Schenkt man den aktuellen Marketingbotschaften der IT-Branche Glauben, könnte man annehmen, die künstliche Intelligenz (KI) sei längst allgegenwärtig. Der Blick in den Mittelstand zeigt jedoch: Ein Großteil der Unternehmen steht selbst bei der Digitalisierung noch recht am Anfang. Was Realität ist und was Vision – darüber hat sich das Midrange Magazin (MM) mit Christian Leopoldseder, Managing Director Austria der Asseco Solutions, unterhalten.

MM: Herr Leopoldseder, diskutieren die Hersteller beim Thema KI im Hinblick auf die Realität im deutschen Mittelstand nicht in völlig abgehobenen Sphären?
Leopoldseder: Auf den ersten Blick mag man diesen Eindruck vielleicht gewinnen. Aus unserer Sicht muss die Digitalisierung jedoch immer als Gesamtprozess betrachtet werden – zu dem als ein Teilbereich auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz zählt oder zählen kann. Selbstverständlich wird kein Unternehmen, das heute noch weitestgehend mit papierbasierten Abläufen arbeitet, gleich morgen zum KI-Champion werden. Hier gilt es, zunächst die notwendige Vorarbeit zu leisten – eine Aufgabe, bei der die ERP-Anbieter mit ihrer Praxiserfahrung unterstützen können und sollten. Dabei lassen sich zum Beispiel bestehende Prozesse gemeinsam mit dem Kunden analysieren und für das digitale Zeitalter optimieren. Zudem besteht die Möglichkeit, Ideen zu sammeln und Potenziale auszuloten, wie beispielsweise das bestehende Geschäftsmodell durch die digitale Technik erweitert werden kann. Gleichzeitig arbeiten wir jedoch auch mit einigen Unternehmen zusammen, die im Digitalisierungsprozess bereits sehr weit fortgeschritten sind und schon heute über gute Voraussetzungen verfügen, KI-Technologie zu nutzen. Mit ihnen setzen wir aktuell diverse Individual- und Pilotprojekte in unterschiedlichsten Anwendungsbereichen um, darunter auch Szenarien, die von unseren Kunden in Form einer eigenen Idee an uns herangetragen wurden.

MM: Können Sie uns ein Beispiel für ein solches digitales Geschäftsmodell geben?
Leopoldseder: Gerne. Die digitale Technologie gibt Unternehmen die Möglichkeit, ihre bestehenden Produkte durch zusätzliche Funktionen oder Services zu verbessern. So lassen sich die produzierten Maschinen eines Maschinenbauers etwa mithilfe von Industrie-4.0-Technik Cloud-fähig machen. In der Folge ist der Hersteller in der Lage, seinen Endkunden beispielsweise eine App bereitzustellen, durch die dieser selbst Zugriff auf die Daten seiner Maschine erhält. Damit wäre er dann in der Lage, Informationen zu produzierten Mengen, Betriebsdaten wie Temperatur oder auftretende Störungen unmittelbar an seinem Mobilgerät einzusehen oder die Daten sogar intern in eigenen Systemen weiterzuverarbeiten. Der Maschinenhersteller vertreibt also nicht mehr nur die reine Anlage an den Endkunden, sondern erweitert sein Angebotsspektrum auch durch digitale Zusatzservices rund um seine Maschine. Eine weitere Möglichkeit wäre, eine optionale Anomalie-Erkennung für eine verkaufte Maschine bereitzustellen. Dazu lassen sich die übertragenen Betriebsdaten kontinuierlich in der Cloud überwachen und so mithilfe von künstlicher Intelligenz kritische Muster in den Parametern erkennen, die auf einen bevorstehenden Fehler im Betrieb der Maschine hindeuten können. Darauf kann entsprechend reagiert und so der Entstehung von Ausschuss oder gar einem Ausfall der Maschine zuvorgekommen werden.

MM: Ließe sich das gerade von Ihnen beschriebene Szenario nicht auch ganz klassisch mit einfachen Schwellenwerten realisieren?
Leopoldseder: Ja und nein. In den meisten Predictive-Maintenance-Szenarien kamen in der Vergangenheit in der Tat Schwellenwerte zum Einsatz: Näherte sich ein bestimmter Parameter diesem Wert, wurde präventiv ein Alarm ausgelöst. Das Problem hierbei besteht jedoch darin, dass eine Maschinenstörung selten an nur einem Parameter festgemacht werden kann, sondern mit komplexen Parameterkonstellationen verbunden ist. Im ersten Schritt gilt es daher, diese überhaupt zu identifizieren. Hunderte von Parametern müssen miteinander in Beziehung gesetzt werden – und mit jedem weiteren beobachteten Parameter steigt die Zahl der Möglichkeiten exponentiell an. Realistisch bewältigt werden kann das nur durch den Einsatz von KI. Eine ähnliche Situation besteht beispielsweise im Bereich der Lagerhaltung. Auch hier beeinflusst eine Vielzahl von Faktoren die Frage, wie und in welcher Menge ein bestimmter Artikel vorgehalten werden soll. Hier zeigt die Praxis, dass bei vielen Kunden oft Unsicherheit herrscht, welche Werte für die einzelnen Artikel im ERP-System idealerweise eingestellt werden sollten. In vielen Fällen wird der Wert einmal definiert und anschließend nie wieder geändert, auch wenn sich das Unternehmen weiterentwickelt. Durch den Einsatz von KI – in diesem Fall konkret durch das K-MEANS-Verfahren – lässt sich die große Menge an Parametern objektiv analysieren und dadurch ein konkreter Optimierungsplan entwickeln, wie der Lagerbestand empirisch fundiert reduziert werden kann.

MM: Verfügen die Unternehmen denn realistischerweise überhaupt über eine ausreichende Datenbasis?
Leopoldseder: Eine möglichst umfangreiche Datenbasis ist in der Tat eine sehr wichtige Voraussetzung für die Realisierung eines KI-Szenarios. Als Faustregel empfehlen wir einen Datenbestand von mindestens einem, besser noch zwei oder drei Jahren. Entscheidend ist hierbei jedoch nicht allein die Menge der erfassten Daten, sondern auch deren Qualität. Selbst ein Unternehmen, das über eine lange Zeit Daten gesammelt hat, kann diese unter Umständen nicht unmittelbar für eine KI-Analyse nutzen, das muss man ehrlicherweise zugeben. Entscheidend ist nämlich auch die Art und Weise, wie die Daten vorliegen. Im Sommer haben wir beispielsweise ein Projekt zur Anomalie-Erkennung bei einem mittelständischen Spritzgussspezialisten umgesetzt. Dieser hatte in der Vergangenheit bereits fleißig Maschinen- sowie Fehlerdaten gesammelt – jedoch waren die beiden Datenpools nicht miteinander synchronisiert. Es war bekannt, welche Fehler aufgetreten sind, nicht jedoch, welche Maschinendaten zum zeitlichen Auftreten des Fehlers gehörten. Hier musste zunächst entsprechende Vorarbeit geleistet werden, bevor die KI-Analyse realisiert werden konnte.

MM: Dann haben KI-Projekte de facto also eine Vorlaufzeit von zwei bis drei Jahren?
Leopoldseder: Es besteht tatsächlich auch die Möglichkeit, kurzfristig mit der Nutzung von KI-Technik zu beginnen, selbst wenn bislang kein nennenswerter historischer Datenbestand vorliegt. Möglich wird dies dadurch, dass unsere neuronalen Netze – zumindest Stand heute – empfehlungsbasiert arbeiten und nicht vollständig autonom handeln. Um im Beispiel der Anomalieerkennung zu bleiben: Die KI analysiert die Maschinendaten in Echtzeit und generiert auf dieser Basis Warnungen, wenn eine als kritisch identifizierte Parameterkonstellation auftrifft. Der Maschinenführer gibt daraufhin Feedback: Ja, es liegt tatsächlich ein Fehler vor, oder nein, die Warnung ist falsch. Durch diese Mensch-Maschine-Interaktion lernt das neuronale Netz und verbessert seine Genauigkeit kontinuierlich. Besteht nun kein historischer Datenbestand, ist es auch möglich, das neuronale Netz im laufenden Betrieb von Grund auf neu zu trainieren. Zu Beginn werden die Vorhersagen dann entsprechend wenig akkurat sein, doch ein einmal beobachteter Fehler kann bereits beim nächsten Auftreten vorhergesagt werden. Denn in diesem Fall baut das neuronale Netz wie ein Kleinkind durch Erfahrungen seinen Wissensschatz auf. Liegt hingegen bereits ein historischer Datenbestand vor, beginnt die KI mit einem hohen „Vorwissen“ mit der Erkennung von Anomalien. Um also abschließend nochmals auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Mit der Wahl der richtigen Herangehensweise wird KI-Technik für jedes Unternehmen nutzbar, unabhängig davon, ob die eigene Digitalisierungsreise bereits vollständig abgeschlossen ist oder erst vor einiger Zeit begonnen wurde. (rhh)

Asseco Solutions

Als Managing Director Austria leitet Christian Leopoldseder die österreichische Asseco-Niederlassung. Im Fokus seiner Aufgaben stehen dabei die Etablierung Assecos als Anbieter für qualitativ hochwertige Lösungen in Österreich im ERP-Bereich, sowie als erster Ansprechpartner für die Umsetzung von KI-Projekten. Seit Ende 2018 ist Leopoldseder auch Geschäftsführer der von Asseco akquirierten SalesBeat GmbH, eines Spezialisten für KI-Technologie.