Wie können Unternehmen bei steigender Dynamik und zunehmendem Fachkräftemangel ihren Kurs flexibler planen und verfolgen? Als zentrales System muss das ERP mit KI und Low-Code-Werkzeugen die Prozessautomatisierung unterstützen, sagt Daniel Schmid, Chief Portfolio Officer der COSMO CONSULT Gruppe im Interview mit Midrange Mail (MM).

MM: Was sollten moderne ERP-Systeme heute leisten, damit Unternehmen mit der zunehmenden Dynamik von Lieferketten und Märkten klarkommen?
Schmid: Einer der wichtigsten Faktoren ist heute die Konnektivität zu anderen Systemen und Diensten: Sie ist beim klassischen ERP oft nicht ausreichend gegeben. Es sollte auch leicht möglich sein, auf die Daten im ERP zuzugreifen, um sie zum Beispiel in KI-Analysen einzubeziehen und mit deren Ergebnissen wiederum Prozesse im ERP anzustoßen. Vor allem aber müssen ERP-Systeme heute in hohem Maß automatisierbar und schnell anpassbar sein, um die Wettbewerbsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit von Unternehmen auch perspektivisch zu erhalten. Dafür ist es besonders wichtig, sich jetzt durch die Digitalisierung von Fachwissen im Unternehmen vorzubereiten.

Quelle: Quelle: COSMO CONSULT

Daniel Schmid ist Tech-Visionär und CPO bei COSMO CONSULT. Er setzt auf offene Cloud-Plattformen statt ERP-Monolithen.

MM: Schlagwort KI: Welche Rolle kann eine Technologie wie ChatGPT aus Ihrer Sicht im ERP-Kontext spielen?
Schmid: Der Hype um ChatGPT hat vor allem verdeutlicht, dass KI-Technologie jetzt im Mainstream angekommen und sehr einfach nutzbar ist. Der KI-Chatbot ist allerdings nur ein Türöffner, ein initiales Werkzeug. Erst dann, wenn es kontextgebunden in die Arbeitsabläufe eingebunden wird, entfaltet es echte Wirkungskraft. Auf der Microsoft-Anwendungsplattform hatte das Thema Priorität und wurde mit der Assistenztechnologie Microsoft Copilot in sämtliche Produkte eingebaut.

MM: Wie lautet denn die Konsequenz?
Schmid: Jetzt kann beispielsweise automatisiert ein fertiges Angebot mit Anhängen erstellt werden, indem in natürlicher Sprache die gewünschten Parameter genannt oder aus einer Kundenanfrage eingelesen werden. Individuelle Zahlungsbedingungen aus dem CRM, die Preisfindung und Produktverfügbarkeit im ERP erfolgen automatisch. Auch im E-Commerce-Umfeld wird es einfacher, das Einkaufserlebnis von Kunden und Kundinnen zu verbessern, indem etwa mittels Copilot automatisch je nach Zielgruppe eingängige Produktbeschreibungen aus Datenblättern generiert werden.

MM: Welche Rolle spielt die Cloud dabei – und warum können alte ERP-Lösungen hier oft nicht mithalten?
Schmid: Neue Technologien sind immer zuerst in der Cloud zu haben, häufig sogar ausschließlich dort – bei KI beispielsweise stößt man on-Premises schnell an Grenzen. In der Cloud ist die Skalierbarkeit von Hardware praktisch unbegrenzt, wenn etwa neue KI-Modelle gerechnet werden sollen oder für höheren Ressourcenbedarf in Spitzenlastzeiten. Bei SaaS-ERP (Software as a Service) aus der Cloud ist zum einen die Vernetzung mit anderen Systemen leichter. Beispielsweise stellt eine Plattform wie Microsoft Azure Schnittstellen für praktisch alle gängigen Systeme und IoT-Devices zur Verfügung. Mit Cloud-KI-Services lassen sich Daten aus vielen Quellen bündeln und für Vorhersagen oder Simulationen nutzen. Zum anderen ist das ERP ohne eigenen Update- und Wartungsaufwand immer auf dem aktuellen Stand einer permanenten Weiterentwicklung: Neue Features – wie etwa ein KI-Assistent – stehen sofort zur Verfügung.

MM: Wie wichtig ist es heute, dass individuelle Geschäftsprozesse unterstützt werden, Stichwort Standard versus Customizing? Gilt weiterhin das Prinzip, dass Unternehmensprozesse sich soweit wie möglich an den Standard anpassen sollten?
Schmid: Viele Unternehmen haben auf eher starre ERP-Standardsoftware gesetzt und damit auf Individual-Software verzichtet. Mit Low-Code/No-Code-Entwicklungs-Tools wie der Microsoft Power Platform werden individuelle Anpassungen heute allerdings sehr einfach. Das gilt für die Entwicklung von Apps, die Prozesse beschleunigen, oder Automatisierungen, die die Arbeitslast reduzieren. Moderne ERP-Systeme sollten auf eine maximale Nutzung von Low-Code/No-Code-Entwicklung setzen, um die Prozesse umgehend immer wieder an die jeweils neuen Anforderungen anzupassen. Oft geht es darum, das ERP zu ergänzen, manuelle Zwischenschritte zu automatisieren oder Lücken zwischen Systemen zu schließen. Die Demokratisierung der Softwareentwicklung bringt viele wesentliche Vorteile für Unternehmen.

MM: Was bedeutet das für die Umsetzung neuer gesetzlicher Vorgaben, beispielsweise das CSRD-Nachhaltigkeits-Reporting?
Schmid: Ein integriertes Low-Code/No-Code-Werkzeug wie die Power Platform ist tatsächlich ein Game Changer. Damit wird sichergestellt, dass Anforderungen zeitnah schnell umgesetzt werden – eine wesentliche Herausforderung, um im Geschäft angesichts wachsender Dynamik überhaupt parieren zu können. Kunden und Kundinnen werden in den nächsten Jahren ihre Lieferanten noch stärker nach deren Zertifizierungs- und Compliance-Fähigkeit mit Blick auf Nachhaltigkeitsthemen bewerten. Transparenz nach außen bedeutet für die meisten Unternehmen, dass Prozesse nach innen verändert werden müssen. Um ehrgeizige CO2-Ziele zu erreichen, gilt es meist, mehr Daten zu erheben und Teilschritte stärker im ERP-System zu dokumentieren. Das betrifft vor allem produzierende Unternehmen, deren Fertigungs- und Logistikprozesse oft sehr spezifisch sind.

MM: Wie fügen sich eigenentwickelte Anpassungen in das Gesamtsystem ein, wenn es um die Update-Fähigkeit und Wartbarkeit geht?
Schmid: Es braucht eine gute Testautomatisierungs- und Implementierungsstrategie. Damit wird sichergestellt, dass alle Lösungen so aufgebaut sind, dass sie nicht mit Updates in Konflikt geraten. Auch Citizen Development ist Software-Entwicklung. Wichtig ist deshalb, sich durch einen erfahrenen IT-Dienstleister am Anfang gut beraten und schulen zu lassen, um einige Aspekte aus Professional-Developper-Perspektive zu beherzigen – beispielsweise das Thema Data Governance. Es gibt einfach bedienbare Open-Source-Tools für CI/CD (Continous Continuous Integration/Continuous Delivery), mit denen zum Beispiel die Versionsverwaltung von Anpassungen abgedeckt wird. Wenn diese Hausaufgaben einmal gemacht wurden, dann können Unternehmen unbesorgt von entsprechenden Entwicklungs-Werkzeugen profitieren.

MM: Der Fach- und Arbeitskräftemangel wird in vielen Branchen immer deutlicher, wenn jetzt nach und nach die Boomer-Generation in Rente geht, wird es noch enger. Welchen Beitrag können ERP-Systeme leisten, damit sich die Mitarbeitenden mehr Freiräume für das Wesentliche schaffen können?
Schmid: Aus meiner Sicht muss man sich im Unternehmen zuerst einmal ehrlich fragen, was mit KI anders gemacht werden kann. Was sind die spezifischen Werte, jenseits von KI? Welche Prozesse, Aufgaben und welche Intelligenz können nicht ersetzt werden? Viele Unternehmen erreichen mit Automatisierung, dass sie bei gleichen Personalzahlen doppelt oder mehr Umsatz erwirtschaften können. Die Tools legen die Grundlage, zeitraubende Aufgaben wie die Suche nach einer Information oder immer gleiche, langweilige Routinetätigkeiten zu ersetzen. So konnte Coca Cola Botteling beispielsweise bei seinen über 50.000 täglichen Bestelleingängen die Bearbeitungszeit von Stunden auf wenige Sekunden herunter reduzieren und so die Zeit von zehn Arbeitskräften einsparen. Innerhalb weniger Monate wurden dafür Prozessautomatisierungen mit Power Automate jenseits des Legacy-Systems umgesetzt. (rhh)

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