Vor noch nicht ganz so langer Zeit lebte einmal ein Mann namens „MicroProkrustes“. Weithin war er als großzügiger Gastgeber bekannt. Reisende, die in die Stadt kamen, waren stets willkommene Gäste in seinem Haus. Sie konnten sich dort erfrischen, eine Mahlzeit zu sich nehmen, sie wurden unterhalten, sie konnten mit dem Explorer im Internet surfen, und sie bekamen ein Bett für die Nacht. Das Bett war immer einladend – sauber und frisch bezogen. Für die müden Reisenden war das genau richtig. Allerdings waren nicht immer alle Reisenden von gleicher Länge. Und das ärgerte MicroProkrustes, denn er wollte, dass alles zusammenpasste. Wenn nun also die Füße eines Gastes über das Bettende hinausragten, so wurden sie abgehackt. Leute, die zu kurz waren, wurden in Stücke zersägt, die dann so angeordnet wurden, dass ihr Kopf das obere Ende und ihre Füße das untere Ende innerhalb des Bettes bildeten. Jede Unvollkommenheit in der Mitte wurde verhüllt. Das war die Gastfreundschaft des MicroProkrustes. Doch dann kam „MyHercules Benutzerorientatis“, schwang seine mächtige Individualisierungsfunktion und alle – außer MicroProkrustes – lebten glücklich und in Frieden. Oder doch nicht? Aber ganz im neuzeitlichen Ernst: Mittelständische Benutzer von AS/400 und iSeries sind, was Benutzerorientierung angeht, ja nicht unbedingt verwöhnt, auch wenn die Füße gewöhnlich dranbleiben dürfen! So eine klassische alphanumerische „Green Screen“-Applikation umschmeichelt Anwender nun einmal nicht mit „objektorientierten” Benutzeroberflächen, charmanten Icons und gewöhnlich auch nicht mit anpassbaren Menüs.
Benutzerorientierte Software ist kein Luxus
Nun gibt es IT-Verantwortliche, die sagen, derartiger „Firlefanz” sei ohnehin Zeitverschwendung. Wissenschaftlich erhärtete Tatsache aber ist, dass die Produktivität von Anwendern ganz entscheidend davon abhängt, wie „zu Hause” sie sich in einer bestimmten Applikation fühlen und wie gut diese an ihre tatsächlichen Bedürfnisse angepasst ist bzw. sich anpassen lässt. Hier geht es weniger um den Gegensatz zwischen graphischer Benutzeroberfläche versus Green Screen. Denn eine optimal gestaltete alphanumerische Bedienungsoberfläche kann durchaus ergonomischer sein als 17 Millionen Farben, reichlich Hintergrundmotive und Schriftarten beispielsweise in der Windows-Welt. Aber es geht um den Gegensatz zwischen Software, die sich auf einen Benutzer abstimmen lässt, und Software-Konzepten, bei denen erwartet wird, dass sich die Benutzer anpassen. Und Letztere sind leider immer noch in der Mehrzahl.
„Sitzverstellung” wie im Bobby-Car
Anwendungen wie etwa Office-Suiten, mit denen wir alle einen Großteil unserer Arbeitszeit verbringen, sind ungefähr so individualisiert wie ein Bobby-Car für unsere lieben Kleinen. Gefragt wären aber Software-Systeme, die sich ähnlich an den tatsächlichen Nutzer anpassen lassen wie Kraftfahrzeuge der Oberklasse, denen sie ja auch preislich in aller Regel entsprechen. Wie aber sieht es aus bei den meisten Office-Paketen und ERP (Enterprise Resource Planning)-Suiten, bei CRM (Customer Relationship Management)-Software oder Business Intelligence? Überwiegend Fehlanzeige. Die meisten dieser Systeme lernen überhaupt nichts durch den Umgang mit ihren Benutzern und sind auch niemals dafür konzipiert worden.
Schaden anrichtende „Hilfs”-Agenten
So genannte „Bedienhilfen“ in Office, wie eine unbelehrbar immer wieder selbst Fehler produzierende Autokorrektur oder sich dummdreist regelmäßig mit wenig konstruktiven Hinweisen in den Arbeitsfluss drängende „Assistenten”, die nicht eben einfach auszuschalten oder zu umgehen sind, stellen für Nicht-Microsoft Certified Engineers, sprich 99,9 % der Benutzer eher ein Hindernis dar, als dass sie hilfreich wären. Wo ist denn der Assistent, der sich wirklich merkt, was Sie typischerweise für Dokumente erstellen und für Sie selbsttätig Dokumentvorlagen anlegt, Textbausteine vorbereitet oder wenigstens sinnvolle Dokumentennamen vorschlägt?
Bei ERP-Systemen sieht es eher noch schlimmer aus. Sachbearbeiter werden hier genau so behandelt, wie es ihre Funktionsbezeichnung schon andeutet: nämlich als Hilfskräfte. Die größte Schwierigkeit verursachen viele Systeme dadurch, dass dem Benutzer sämtliche Funktionen eines gegebenen Moduls „zur Verfügung gestellt”, sprich zugemutet werden. Es fehlt häufig die wirklich individualisierbare Arbeitsumgebung, die nur das anzeigt, was tatsächlich benötigt wird. Ob diese Anpassung übrigens tatsächlich vom Endanwender selbst durchgeführt werden kann, ob die Software stark „lernfähig” ist und einen Teil der Individualisierung selbst leistet oder ob, wie in modernen Internet-Softwaresystemen (z. B. www.eXpeedo.de), ein Administrator per Mausklick und gegebenenfalls auf Anforderung ganze Funktionsbereiche bereitstellen oder verbergen kann, ist zweitrangig und hängt von den jeweiligen Anforderungen ab. Entscheidend ist, dass die Personalisierungsfunktion überhaupt existiert. Hinzu kommt, dass nach etlichen Jahrzehnten der Forschung in Sachen Software-Ergonomie auch in der „Post-Bildschirm-Richtlinien-Ära“ ein Gutteil der heute verkauften Software kaum einem der als richtig erkannten ergonomischen Prinzipien entspricht (siehe auch Infokästen).
Es geht auch anders
Positive Gegenbeispiele – soweit sie nicht ohnehin von Unternehmen selbst konzipierte und erstellte Individualsoftware-Systeme sind – finden sich meist im Bereich Internet. Das hat damit zu tun, dass zwar ein Anwender beispielsweise von R/3, dessen Entwickler eine kleine Ewigkeit für eine erste Anpassbarkeit der Oberfläche benötigt haben, zu dieser Anwendung verurteilt ist – ein Internet-User jedoch nicht. Er ist immer nur einen Mausklick von der Konkurrenz entfernt, dementsprechend mussten sich Entwickler von Internet-Programmen und -Services bemühen. Das merkt man. Portale wie beispielsweise de.my.yahoo.com merken sich heute schon (u. a. mit Hilfe der häufig geschmähten, aber für eine Individualisierung notwendigen Cookies) die Interessen und Informationsbedürfnisse, ja sogar die Arbeitsweise einzelner Benutzer und begrüßen sie daher nicht nur höflich mit Namen, sondern eben auch mit einem hochgradig auf sie angepassten Angebot.
Beispielsweise merken sich Wetter-Sites im Netz der Netze den Benutzer und bieten ihm „seine” Wetterprofile an. Die können z. B. das Wintersportwetter für das Sauerland, das Motorradwetter für die Hausstrecke und das Wetter der häufig besuchten Firmenniederlassungen beinhalten, jeweils mit topaktuellen Daten. Es gibt mittlerweile Content Management-Systeme (z. B. das Handelsblatt Topix), Online-Shops (www.shopshop24.com), individualisierbare (etwa im Sinne des Jugendschutzes) Suchmaschinen (www.altavista.de) und sogar individuelle WAP-Angebote fürs Handy (myWAP) mit einer solchen Personalisierungsfunktion! Natürlich sollten Nutzer in jedem Falle prüfen, was mit ihren zum Anlegen von Profilen erhobenen Daten geschieht. Doch der Gegenwert in Gestalt der Personalisierung rechtfertigt häufig die Informationspreisgabe.
e-Integration
Hier sind teilweise ähnliche Überangebote zu beobachten wie generell bei den Menümassen der Office- oder ERP-Suiten. Auch damit können Anwender überfordert oder abgelenkt werden. Eine Auftragserfassung beispielsweise braucht nun wirklich keine „Webifizierung“, Logistikkomponenten oder eine Einkaufslösung.
Fazit
Es ist absehbar, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Software-Produkten künftig stärker als bisher von ihrer Benutzerfreundlichkeit abhängen wird. Dies ist einer von vielen erfreulichen Effekten der Internet-Revolution. In Ihrem Hause entwickelte ebenso wie zugekaufte Anwendungen sollten dem also entsprechend Rechnung tragen.
GRUNDLAGEN DER GUI- UND SOFTWARE-ERGONOMIE
Nicht nur für die Oberflächen von Internet-Software sind die folgenden Kenngrößen beachtenswert: Performanz, Lesbarkeit, sinnvolle Seitenlänge, klare Navigation, einheitliche Bedien-Elemente! Institutionen – wie zum Beispiel das Fraunhofer Institut oder die Universitäten von Maryland sowie die Carnegie Mellon-Universität – haben langjährige Arbeit auf diesem Gebiet geleistet, so dass mittlerweile als gut erforscht angesehen werden kann, was zum einen als Hürde zwischen Anwendung und Nutzer wirkt und was dahingegen die Produktivität fördert und erhöht. Dennoch wird in diesen Bereichen bei der Software-Erstellung immer wieder unnötig gesündigt, vor allem im Bereich Lesbarkeit und Bedien-Elemente. Beispielsweise ist das menschliche Auge nicht in der Lage, Farben unterschiedlicher Wellenlänge gleichzeitig zu fokussieren. Prinzipiell sollte deshalb farbige Schrift auf farbigem, insbesondere andersfarbigem Grund vermieden werden. Viele dieser Gestaltungsgrundsätze sind in Richtlinien wie z. B. die Bildschirmarbeitsverordnung oder DIN EN ISO 9241 eingeflossen.
WEITERER LESESTOFF
www.acm.org/sigchi
www.sozialnetz-hessen.de/Ergo-Online
www.humanfactors.com
www.useit.com
www-3.ibm.com/ibm/easy/eou_ext.nsf/Publish/558