Wer sich heute auf die Suche nach einer Software zur Abbildung seiner Geschäftsprozesse begibt, hat die große Auswahl. Die Crux bei ERP-Lösungen liegt auf dem „E“ wie Enterprise, denn je nach Branche und Aufgabe innerhalb der Supply Chain weichen auch die Anforderungen an die Software voneinander ab. Eine grundlegende Entscheidung liegt in der Wahl zwischen der Anschaffung einer Individual- oder einer Standardlösung. Drehen wir das Rad der Zeit in der IT-Geschichte zurück. Nicht bis Konrad Zuse, keine Sorge, sagen wir nur bis Mitte der 60-er Jahre, als die IBM ihr legendäres System/360 auf den Markt brachte. Viele Dinge waren damals weniger ausgeprägt: Die wenigen Auto-Typen auf den Straßen konnte man mit etwas Übung schon am Geräusch unterscheiden, ein Telefon hatte bei weitem nicht jeder (im Haus!), und auf Mallorca waren mehr Einheimische als Touristen anzutreffen. Auch die Industrie-Landschaft war zu jener Zeit viel weniger spezifiziert. Seit Verfügbarkeit der ersten Business-Lösungen hat sich dieses Bild jedoch grundlegend verändert.
Eine für alle …
Heute sind die Anforderungen an ERP-Standardsoftware so unterschiedlich, wie die hohe Zahl der Branchen, in denen sie zum Einsatz kommt. Diese mit einem einzigen Produkt adäquat abzudecken, ist ein Anspruch, den selbst die IT-Riesen aufgegeben haben. Denn um das zu erreichen, müssten sie entweder alle erdenklichen Aufgaben abbilden können und damit per se als Monolithen die Ressourcen der Unternehmen belasten, oder im Standard so flexibel sein, dass sich alle Spezialitäten der jeweiligen Branche schnell und einfach nachträglich einrichten lassen. Gerade im letzten Punkt trennt sich jedoch noch immer die Spreu vom Weizen, da die Erhaltung von Customizings über die Release-Wechsel hinweg problematisch ist.
… oder für jeden etwas Eigenes?
In der Konsequenz ist eine große Zahl von Branchenlösungen entstanden. So zum Beispiel Software für die chemische und pharmazeutische Industrie, die der Problematik von Wirkstoffgehalten und Gefahrstoffen samt den besonderen Anforderungen an die Anlagensicherheit Rechnung trägt, oder auch spezielle Automotive-Lösungen: Hier kommt es in erster Linie auf Schnelligkeit an und damit auf die kommunikative Vernetzung innerhalb der Supply Chain. Just-in-Time heißt das Zauberwort, und die herstellungstechnische bzw. logistische Verantwortung liegt oft in einzelnen Abteilungen, die sich untereinander wie Kunden und Lieferanten verhalten. Das erfordert eine durchgängige Informationstransparenz bei allen Beteiligten – vom Rohstoff bis hin zum Endprodukt und eine prozessorientierte Abbildung der Stammdaten im ERP-System.
Logistik als horizontale Anforderung
Bei näherer Betrachtung von Branchenlösungen nimmt die Logistik eine Sonderstellung ein. Handelt es sich doch um einen Unternehmensbereich, der sich so gut wie durch alle Branchen zieht, ähnlich wie die Finanzbuchhaltung oder das Kundenmanagement. Natürlich stellt sich die Logistik eines Großhändlers für Backwaren völlig anders dar als die eines Mineralölkonzerns. Sieht man die Logistik als Tätigkeitsschwerpunkt eines Unternehmens an, zum Beispiel als Kerngeschäft von Distributoren und Speditionen, so sind die entsprechenden Applikationen durchaus auch als vertikale Lösungen anzusehen. Auch hier lässt sich demnach die Frage stellen, ob eine Standardsoftware an die Grenzen des Möglichen stößt.
Besonderheiten im Pharma-Bereich
Werfen wir einen Blick auf pharmazeutische Produkte: Diese erfordern aufgrund sehr strenger gesetzlicher Vorschriften ein ganz besonderes Fertigungsmanagement. Daher müssen viele Herstellungsprozesse und entsprechend auch die EDV-Systeme validiert werden, um eine konstante Produktqualität nachweisen und gewährleisten zu können. In der Distribution von pharmazeutischen wie auch medizinischen Produkten setzen die sehr hohen Transaktionsvolumina bei zum Teil sehr kleinen Artikelmengen hohe Anforderungen an die Systeme – 50.000 Bestellzeilen pro Stunde sind vor diesem Hintergrund keine Seltenheit.
Nahrungsmittelindustrie und die Haltbarkeit
Der Umgang mit verderblichen Produkten zählt zu den größten Herausforderungen im Food-Bereich. Im Produktionsprozess ist es gerade dann, wenn das Endprodukt Qualitätsmängel aufweist, von großer Wichtigkeit, die verschiedenen Zulieferprodukte über eine durchgängige Chargenverfolgung lückenlos dokumentieren zu können. Skurril klingende Module wie die „Schnittmusterzerlegung in der Fleischproduktion“ geben ein Gefühl dafür, wie ausgefallen die Anforderungen der Lebensmittelbranche sein können. Im Handel ist neben dem Haltbarkeitsdatum in Verbindung mit einer intelligenten Platzierung – je kürzer haltbar, desto weiter nach vorne im Regal – die Inventur als Bereich zu nennen, der besondere Anforderungen an die IT-Systeme stellt.
Standard- vs. Individuallösungen
Heute sind so gut wie alle Nischen für Branchenstandardlösungen besetzt. Die Wurzeln dieser Applikationen liegen in Individual-Ansätzen begründet, die später zum Standard abstrahiert wurden, oder in von vornherein als Standardprodukt ausgelegter Software, deren Customizing-Versionen man forthin isoliert und separat vermarktet hat. Alternativ bilden heute nach wie vor viele Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen ihre Prozesse mit Individualsoftware ab. Diese grenzt sich von Standardlösungen nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern durchaus auch in einer inhaltlichen Dimension ab.
Kein Kardinalsweg
Individuallösung oder Standard? Einen Kardinalsweg gibt es in dieser Frage leider nicht. Je nach Spezialisierungsgrad ist sie letztendlich im Einzelfall zu entscheiden. Dabei können Aspekte wie die Dynamik der zu erwartenden Entwicklungen genauso eine Rolle spielen wie der Grad der Einbindung in die Supply Chain. Die vorliegende Ausgabe gibt einen Einblick in die Anforderungen und Probleme der unterschiedlichsten Branchen, der über den Tellerrand der eigenen Problemstellungen hinaus reicht – eine Perspektive, die sich lohnen kann, denn nicht selten entstehen Lösungen durch Transferleistungen aus Ansätzen fremder oder nur verwandter Bereiche. In diesem Sinne: Viel Vergnügen bei der Lektüre Ihres Midrange Magazins.