Hier saßen wir schon einmal. In diesem Besprechungsraum hatten wir vor gut einem Jahr unser Angebot für die Auswahl eines unternehmensweiten ERP-Systems vorgestellt. Damals über den Preis ausgeschieden sitzen wir nun wieder hier und werden in wenigen Minuten unser Gutachten über die Arbeitsergebnisse des damaligen Mitbewerbers vorstellen. Der Kunde ist ein mittelständisches Unternehmen im Bereich Kunststoffverarbeitung und hat über ein sorgfältig gemanagtes, breites Produktportfolio eine gute betriebswirtschaftliche Basis geschaffen. Bisher eher konzentriert im deutschen Markt orientiert sich ein neuer Vorstand strategisch international und fokussiert auf den osteuropäischen und asiatischen Raum. Produziert wird an mehreren Standorten, bisher nur in Deutschland. Vertriebsgesellschaften sind in den wichtigen europäischen Ländern präsent. In der Vergangenheit agierte das Unternehmen eher konservativ und kostenorientiert. Das zeigt sich vor allem in der IT: Hier entstand im Laufe der Jahre auf iSeries und MAS90 eine kostengünstige Applikationslandschaft, die mit geringem personellen Aufwand betrieben wird. Man ist stolz auf niedrige Lizenzgebühren und fühlt sich in der Lage, allen Anforderungen gewachsen zu sein.

Plötzlich ändert sich alles. Das Systemhaus Brain geht wirtschaftlich in die Knie und die Zukunftsfähigkeit der Kernapplikation MAS90 ist fraglich. Eine Bestandsaufnahme bestätigt dringenden Handlungsbedarf: Die alten Applikationen sind von angelernten Organisationsprogrammierern in RPG programmiert, die Dokumentation nur rudimentär vorhanden. Die Anwendungsarchitektur ist stark fragmentiert, enthält viele Redundanzen und lässt sich über Schnittstellen nur unzureichend integrieren. Neue Anforderungen – abgeleitet aus der neuen strategischen Ausrichtung des Unternehmens – sind nicht umsetzbar, die Möglichkeiten neuer Technologie bleiben ungenutzt. Die von Kunden geforderte Flexibilität und kurzfristige Lieferfähigkeit in einem immer komplexeren Produktportfolio können nur über eine immense und damit kostspielige Lagerhaltung aufrechterhalten werden.

Kurzfristiger Handlungsbedarf auf komplexem Terrain

Eine umgehend in Auftrag gegebene ERP-Systemauswahl auf Basis eines funktionalen Fragenkataloges scheitert. Die Empfehlung, auf ein bestimmtes System zu wechseln, findet letztlich keine Akzeptanz – angesichts der mittelständischen Struktur glaubt niemand im Unternehmen so recht an die Umsetzbarkeit.

In dieser komplexen Auswahlphase bietet die Zusammenarbeit mit einem externen Beratungspartner Orientierung. Im konkreten Fall wurde IBM vom Vorstand mit der Erstellung eines Gutachtens über das ERP-Auswahlverfahren beauftragt. Das Ziel lag darin, unter Beteiligung von Vorstand, Fachbereichsmanagement und Mitarbeitern alle Argumente zu konsolidieren und eine für das Unternehmen angemessene Empfehlung zu entwickeln. Es gelang die emotional geladene Stimmung auf eine konstruktive Ebene zurückzuführen und die Chancen auf eine Konsensentscheidung zu verbessern. Schnell kristallisierte sich heraus, dass außer Defiziten in Produktionsplanung und -steuerung die funktionalen Anforderungen an die neue Lösung eher bescheiden sind. Primär lag jedoch allen Beteiligten im Unternehmen daran, zu beantworten, welches ERP-System das Unternehmen in der strategischen Ausrichtung unterstützt, aber gleichzeitig in Komplexität und Aufwand von einer mittelständischen Organisation mit überschaubaren Risiken zu verkraften ist. Die strategische Ausrichtung war klar formuliert: Mit einer modernen IT-Infrastruktur unabhängig und flexibel der Dynamik des Marktes folgen zu können und beispielsweise auch kleinere Akquisitionen auf den internationalen Zielmärkten abbilden zu können. Das gemeinsame Projektteam erarbeitete einen Kompromiss aus der Notwendigkeit und dem Machbaren. Die Entscheidung fiel letztendlich zugunsten des Mittelstandspaketes von J.D. Edwards.

Dieser Fall zeigt, dass die maßgeschneiderte Auswahl einer ERP-Lösung nicht allein über rein funktionale Betrachtungen erfolgen kann. Mindestens ebenso wichtig sind die Übereinstimmung mit der strategischen Ausrichtung, die Zukunftsfähigkeit des Software-Anbieters und die technische Infrastruktur der Applikation. Oft gibt es mehrere Lösungen, die diesen Anforderungen entsprechen. Hinzu kommen Kriterien wie die Kundenorientierung des Software-Anbieters oder ein kurzfristig verfügbares Projektteam, welches sich gut in die Kultur des Kunden einfindet: Denn die Akzeptanz bei allen Beteiligten spielt eine wesentliche Rolle und ist der Erfolgsfaktor schlechthin für die erfolgreiche Umsetzung.

Die beschriebene Situation ist kein Einzelfall, sondern typisch für mittelständische Unternehmen in Handel und Industrie: Erneuerungen stehen in immer kürzeren Zeiträumen an, können aber aufgrund der dünnen Personaldecke und des fehlendem Know-how nicht aus eigener Kraft vorangetrieben werden. Ohne externe Hilfe ist die Auswahl eines ERP-Systems zu einer komplexen Sache geworden: Das Angebot ist vielfältig und kaum überschaubar, der Software-Markt in Bewegung. Große Software-Unternehmen wie Oracle und Peoplesoft komplettieren durch Akquisitionen ihr Produktportfolio, neue Player wie Agilisys kommen hinzu. SAP macht sein Standardprodukt durch vorkonfigurierte Branchenlösungen für den Mittelstand attraktiv. Daneben tummeln sich schon seit Jahren Hunderte von Applikationen auf dem Markt. Hier können erfahrene, aber neutrale Experten mit guter Markt- und Technologieübersicht, aber auch der notwendigen sozialen Kompetenz helfen, den Entscheidungsprozess im Sinne des Anwenderunternehmens zu moderieren. Mit einer strukturierten Software-Auswahl lassen sich Risiken bei der Einführung minimieren – immerhin gilt es, eine essenzielle Unternehmensentscheidung mit einer Tragweite von mindestens fünf bis acht Jahren zu treffen.

Autor: Sie erreichen den Autor Peer Stephan Baldamus, Senior Consultant IBM Business Consulting Services (SCOS) unter der Mail-Adresse: Peer.Baldamus@de.ibm.com